In meiner geliebten Heimatstadt geschehen gerade an diesem Wochenende so viele unglaubliche Dinge, daß ich darüber meine Meinung rauslassen muß. Ganz grundsätzlich halte ich Treffen wie G7/G8/G20 für eine wichtige Institution. Nur mit Dialog kommt man weiter und für Dialog muß man sich auch treffen. Manche Kritik an diesen Treffen kann ich nachvollziehen, manche Regierung ist demokratisch nicht legitimiert, manche Themen würde ich anders gewichten, trotzdem bleibt dieses Treffen ein Ort des Gesprächs und damit wertvoll. Was daraus hier nun gemacht wurde, ist allerdings so unglaublich daneben, daß ich es nicht fassen kann.
Die erste Frage, die sich mir stellt ist, ob die Größe des Treffens in dieser Form tatsächlich zielführend ist. Tausende Menschen in den Delegationen, tausende Journalisten, zehntausende Dienstleister. Zwei Nummern kleiner wäre in meinen Augen angemessener gewesen. Es wäre dann wahrscheinlich eher zu Gesprächen unter den Führenden gekommen als nun, wo mehr repräsentiert als wirklich geredet wird, die wirklichen Gespräche den Sherpas, wie Frau Merkel sie gestern Abend nannte, überlassen wird.
Die zweite Frage ist, ob ein solches Treffen mitten in der Innenstadt von Hamburg schlau ist. Ehrlicherweise ist das keine Frage. Es war unschlau. Ich weiß gar nicht, wie man auf das schmale Brett kommen kann zu glauben, ein solches Treffen inmitten Hamburgs abhalten zu können. Die Belastung für die Bevölkerung, denn direkt neben dem G20 – Zentrum wohnen ja zehntausende Menschen, ist ehrlicherweise unerträglich. Damit meine ich nicht nur die bis zu neun Helikopter, die 24h/d über einem kreisen und die den Schlaf doch deutlich stören. Damit meine ich vor allem das komplette Zusammenbrechen von Infrastruktur. Straßen sind weiträumig gesperrt, Busse fahren dadurch nicht, U- und S-Bahnen fahren eingeschränkt, Schulen und Kindergärten schließen, Geschäfte sowieso. Man kommt teilweise nach der Arbeit stundenlang nicht nachhause und wenn man dann dort ist, darf man Fenster nicht öffnen und auf den Balkon schon gar nicht. Dazu kommt, daß das Treffen in direkter Nachbarschaft eines linksalternativen Viertels stattfindet, in dem man solche Einschränkungen doppelt doof findet. Das alles hätte man als planender Politiker wissen können, wissen müssen.
Und so erleben wir ein Zusammenprallen von Polizei auf der einen und Demonstranten, unterwandert von Vandalen, auf der anderen Seite. Beide Seiten machen dabei keine gute Figur. Um es freundlich zu formulieren.
Ich halte Demonstrationen für wichtig. Sie sind ein ganz grundlegender Teil unseres Demokratieverständnisses. Jedes Behindern von Demonstrationen ist ein Untergraben unseres staatlichen Selbstverständnisses. Diese Behinderung erfolgt leider von allen Seiten. Zum einen durch geschätzt 800 bis 1.000 Arschlöcher, die im Schutze friedlicher Demonstranten ihr zerstörerisches Werk vollbringen. Und zum anderen durch eine Polizei, die hier so daneben agiert, daß Putin und Erdogan sich bestimmt freuen, weil jede Kritik an ihrem Vorgehen zuhause demnächst mit einem Verweis auf Hamburg abgeschmettert werden kann. Man kann zusammenfassend sagen, daß die Polizei groß aufspielt, wenn es um nichts geht und feige den Schwanz einzieht, wenn es zu Problemen kommt. Das was ich in den letzten Tagen hier mit eigenen Augen gesehen und im Gespräch von Freunden über deren persönliche Erlebnisse gehört habe, läßt mich ausschließlich Verachtung für die Polizei empfinden. Da werden Protestcamps mit Gewalt geräumt, in denen bislang nichts als friedlich gezeltet wurde und es Workshopzelte für eine gerechtere Welt gab. Da wird eine Demo mit 10.000 Menschen zerschlagen, weil es dort vielleicht 500 Vermummte gab, die nach Verhandlungen gerade zumindest in Teilen bereit waren, ihre Vermummung abzulegen und bei der es zu dem Zeitpunkt weitgehend friedlich abging. In beiden Fällen konnte man sicher sein, daß die Gegenwehr überschaubar blieb, da konnte man als Polizei also schön mit Gewalt reinschlagen.
Auf der anderen Seite war aber weit und breit keine Polizei zu sehen, als am Freitagmorgen kilometerweit Autos brannten oder als letzte Nacht die Schanze brannte. Anwohner berichten, daß drei Stunden lang der Pöbel alles kurz und klein schlagen konnte, daß man mehrfach die Polizei zur Hilfe rief, aber niemand kam. Die Polizei sagt, man sei überrascht gewesen, daß es zu Gewalt im Schanzenviertel kam. Wer länger als ein halbes Jahr in Hamburg wohnt weiß, daß das Quatsch ist. Die Polizei hatte einfach keine Eier, da reinzugehen und hat mit ihrem Eingriff so lange gewartet, bis der Pöbel zufrieden und weitergezogen war. Oder sie war eben interessiert daran, solche Bilder entstehen zu lassen, um dann andere, eigentlich ungerechtfertigte Reaktionen, nachträglich zu legitimieren. So oder so eine große Schweinerei.
Und heute morgen, ich wohne etwa 200m vom Beginn der Sperrzone entfernt, erlebe ich, wie eine Oma, vielleicht 90 Jahre alt und von den Jahren deutlich gebeugt, mit ihrem Twingo an einer Straßensperre steht. Sie war einkaufen und möchte nun mit ihren Einkäufen wieder nachhause. Sie kann sich ausweisen und wohnt tatsächlich 150m weiter in einem Gebiet, das friedlich ist. Und diese großkotzigen Polizisten stellen sich breitbeinig vor diese Frau und lassen sie nicht durch. Sie solle doch ihr Leben besser organisieren, sie wisse doch, daß hier gesperrt sei. Nachts zu feige sein, um die Bevölkerung vor marodierenden Idioten zu schützen, aber vor ’ner Oma den großen Max machen. DAS ist die Polizei hier zur Zeit in dieser Stadt.
Damit hier kein falscher Eindruck entsteht: die Polizei hat die Aufgabe, für einen reibungslosen Ablauf dieser Veranstaltung zu sorgen und teilweise muß sie auch nur ausbaden, was andere mit der Entscheidung, den G20 hier stattfinden zu lassen, eingebrockt haben. Das ist mir klar und ich möchte nicht in deren Haut stecken. Ich kann aber von Vertretern des Staates, von Profis in Gefahrenabwehr erwarten, daß sie das mit Ruhe, Gelassenheit und Augenmaß auf der einen Seite und mit klarer Härte auf der anderen Seite tut. So wie es hier geschieht, halte ich es in einem demokratischen Staat für nicht würdig.
Und damit auch das klar ist: die Honks, die hier brandschanzend und plündernd durch die Gegend ziehen, gehören eingebuchtet und mit so viel Sozialstunden überzogen, bis sie den Schaden, den sie anrichteten, doppelt und dreifach, quatsch, zehnfach wieder gutgemacht haben. Ich habe null Verständnis für solche Aktionen, die einfach asozial sind und zu 99% die falschen, nämlich auch nur arme Schlucker treffen.
Ich hoffe, daß die für heute angekündigten Großdemonstrationen nicht geschwächt aus diesem Chaos hervorgehen. Ich hoffe, daß freiheitliche Werte nicht zerrieben werden zwischen Anarchie und Polizeiüberreaktion. Und ich hoffe, daß innenpolitische Scharfmacher nicht Kapital ziehen aus den Vorfällen hier in der Stadt. Denn das muß doch auch klar sein: die Chaoten spielen genau in die Hände derer, gegen die sie antreten. Wenn wir schon so weit sind, daß Sprecher der Roten Flora sich von den Vorfällen distanzieren, dann ist hier einiges schiefgelaufen.
Dialog, das soll der G20 sein. Dann sprecht miteinander. Eine mächtige Demo mit 100.000 Teilnehmern sagt mehr, als brennende Autos und geplünderte Supermärkte.