In den letzten drei Tagen las ich das Buch „Wohin Du auch gehst“, das mich sehr nachdenklich machte und darum möchte ich Euch davon berichten. Benjamin Prüfer, der zwei Häuser weiter wohnt und „fast“ mein Schwager ist, schrieb vor einiger Zeit einen Artikel in der Neon. Es war nicht irgendein x-beliebiger Artikel, sondern gewissermaßen sein ComingOut. Nicht als Schwuler, sondern als jemand, der sich verliebt hat. In eine kambotschanische Prostituierte mit HIV. Ich kannte ihn damals noch nicht, las den Artikel, dachte „kraß“ oder irgendsowas in der Richtung und blätterte weiter. Sehr wahrscheinlich hätte ich das gerade erschienene Buch auch nicht gelesen, hätte ich nicht zwischenzeitlich seine Schwester kennengelernt. Der Klappentext klingt einfach zu sehr nach Frauenroman. Dabei ist das Buch genau das nicht. Es enthält keine leicht lesbare Romantik. Es enthält Leben. Uberlebenskampf. Gedanken. Verzweiflung. Und auch viel Hoffnung.
Vor allem enthält das Buch zwischen den Zeilen sehr viele Gedanken über Verantwortung. In einer westlichen Welt Beziehungsprobleme nicht mit Trennung zu lösen, sondern damit, daß man sich diesen Problemen stellt, ist ja ein wenig aus der Mode gekommen. Doch genau das tat und tut Benjamin. Er ließ das Mädel nicht allein in Kambotscha zurück, flog nicht nach Hause und vergaß sie. Er stellte sich diesem Gefühl, der Verantwortung, der Liebe. Über die Zeit des ersten Kennenlernens bis zum ersten gemeinsamen Flug nach Deutschland handelt das Buch und es ist hervorragend zu lesen. Weil es in toller Sprache und wirklich ehrlich geschrieben ist. Weil es nichts beschönt und nichts vereinfacht. Und weil es anregt, über seine eigenen Standpunkte nachzudenken. Über seine eigene Abgestumpftheit, Faulheit.
Als ich Sreykeo und Benjamin in den letzten Monaten kennenlernte dachte ich im Stillen, daß ich den Zweien nicht allzulange gebe. Nicht wegen der Krankheit, sondern wegen des unterschiedlichen Intellekts. Nachdem ich nun das Buch las weiß ich, daß das bornierte Gedanken waren, daß es eine viel tiefere Verbindung zwischen ihnen gibt und vor allem, daß ich Benjamin maßlos unterschätzte. Da muß ich mich verschämt verneigen.
Und so kann ich Euch nur empfehlen: besorgt Euch das Buch, lest es und vor allem: laßt es an Euch heran. Wie es den beiden aktuell geht, könnt Ihr hier lesen; mittlerweile gibt es auch Möbel in der Wohnung ;-)
Zum Schluß möchte ich gewissermaßen als Leseprobe die letzte halbe Seite des Buches zitieren. Beide sitzen nach über drei Jahren zum ersten Mal gemeinsam im Flugzeug nach Deutschland, sie sind verheiratet, Sreykeo hat ein Visum.
Menschen denken in Geschichten. Jede Biographie vergleichen wir mit einem Film oder einem Buch, und dann kleben wir ein vorgefertigtes Etikett darauf und glauben, wir hätten sie begriffen. Für viele tragen Sreykeo und ich das Etikett „tragische, verzweifelte Liebe“; Geschichten, in denen die Abkürzung HIV vorkommt, können nur tragisch enden. Junge lernt ein Mädchen kennen. Sie hat AIDS. Sie leben glücklich bis ans Ende ihrer Tage. Der Film ist aus. So was will doch keiner sehen. Das ist doch ein Scheißfilm.
Es scheint manchen Menschen, daß wir gegen ein ehernes Gesetz der Neuzeit verstoßen, weil wir uns weigern, uns auf Sreykeos baldigen Tod vorzubereiten. Es macht sie geradezu wütend, daß wir nicht vorhaben, ein Leben unter tragischen Vorzeichen zu führen und unser Unglück zu beklagen.
Sreykeo entdeckt gerade etwas Weißes an unserem Fenster. Sie hält es zuerst für Insekten. „No, that’s ice !“, sage ich zu ihr. Sie schaut mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Sie kennt Eis bisher nur in Würfelform. Na, die wird sich wundern.
Ich glaube, da unten warten eine ganze Menge Menschen darauf, daß unsere Geschichte das zu erwartende traurige Ende nimmt. Aber den Gefallen tun wir ihnen nicht.
Sollen sie warten.